Achtsamkeit und Erleuchtung

Achtsamkeit und Erleuchtung

Auszug aus Gert Scobel »NichtDenken«, Seite 6–13

Denken – Nichtdenken – NichtDenken

Nichtdenken? Wie sollte Nichtdenken eine Tugend sein können – zumal in einer Zeit, in der offensichtlich viel zu wenig nachgedacht und stattdessen allzu leichtfertig, schnell und opportunistisch gehandelt wird, ohne Rücksicht, ohne Weitblick, kurzsichtig? Sind nicht gerade die impulsiven, kurzatmigen und gedankenarmen Äußerungen im Twitter-Stil ein besorgniserregendes Anzeichen dafür, dass Gedankenlosigkeit und Nichtdenken Einzug in das öffentliche (und private) Leben halten und mit achtlosen »Mag ich«-Likes mühselig über Jahrhunderte erarbeitete Grundprinzipien der Aufklärung über Bord geworfen werden!? Nichtdenken repräsentiert, auf den ersten Blick, das exakte Gegenteil von Aufklärung. Es ist der Feind aller Errungenschaften und Programme, für die der Westen und die westliche Zivilisation nach Jahrhunderten der Kriege und es Chaos heute stehen oder zu stehen vorgeben – gibt es doch in Europa und auf anderen Kontinenten Staaten, die sich nach wie vor einem kritischen Denken verpflichtet sehen, einem Denken gegen Nationalismus und Rassismus, gegen Ungleichheit und Benachteiligung von Frauen, gegen Armut und Unterdrückung, gegen Gewalt und Dummheit. Ihre Bürger sehen sich weiterhin dem Projekt der Aufklärung verpflichtet, indem sie sich gegen Ismen und für Demokratie positionieren und für einen flexiblen, beweglichen, aber gemeinschaftlich ausgehandelten Prozess eintreten, der allen eine Zunahme von Freiheit, Gleichheit, Gewaltlosigkeit sowie Brüder- beziehungsweise Schwesterlichkeit ermöglicht und zudem einen nachhaltigeren Umgang mit der Natur. Wie sollte Nichtdenken da eine Tugend sein können? 

»Nichtdenken ist der offene Aufruf zum Irrationalismus. Nichtdenken ist kein subversiver Punk...«

Nichtdenken, das zeigen selbst oberflächliche Überlegungen, spiegelt lediglich eine populistische Attitüde wider, die behauptet, sich gegen das Establishment des Denkens und gegen die intellektuellen Eliten zu richten. In Wahrheit stellt sie eine Anti-Tugend dar. Das Nichtdenken des Populismus, der komplexitätsvergessen verkennt, dass niemand sich mehr in einfachen Handlungssituationen befindet, löst weder Probleme noch die Krisen der Gegenwart, sondern trägt durch allzu einfache und daher unanwendbare Lösungen zu deren Steigerung bei. Nichtdenken ist der offene Aufruf zum Irrationalismus. Nichtdenken ist kein subversiver Punk, sondern die systematische Auslöschung aller Markierungen und Abmachungen, die das Denken und mit ihm das Handeln noch daran hindern, in die Beliebigkeit zu treiben. Willkür heißt, Launen und Stimmungen alleine zu folgen und einer Gefühligkeit Raum zu geben, die zum offenen Machtgebrauch einlädt. Wo reine Macht Ordnung schafft, wird sie zur Willkür – und führt an anderer Stelle der Gesellschaft zu Ohnmacht und Ungerechtigkeit, weil sich solche Macht immer gegen unliebsame Minderheiten richtet. Wer Gerechtigkeit will, kommt nicht umhin, sich einzumischen und für ein zivilisiertes Streiten und damit für das kritische Denken einzutreten. An der Möglichkeit zur Kritik, im Denken und in der Praxis, entzündet sich die Hoffnung auf Besserung.

Nichtdenken ist in der Tat keine Lösung, sondern ein Problem. Indem Nichtdenken notorisch auf das Vermeiden von Denken fixiert ist, stellt es eine Form der Verleugnung dar. Nichtdenken segelt im Windschatten des Denkens, um es von dort aus, wann immer sich die Möglichkeit bietet, zu torpedieren. Während das Denken noch frei ist, sich mit allem und jedem zu befassen und seine Urteile, wenn möglich, kritisch zu verbessern, bleibt das Nichtdenken auf seinen einzigen Gegenstand, das Denken, das es aushebeln will, fixiert. Insofern ist Nichtdenken zerstörerisch, indem es, ohne es zu bemerken, den, der denkt, selbst gefangen nimmt. 

»Denken trägt nicht selten dazu bei, die Probleme, mit denen wir uns abquälen, zu vermehren, statt sie zu lösen.«

Doch ist all das nur der eine, offensichtliche Teil der Wahrheit. Denn auch das Gegenteil, das Denken selbst, wie wir es kennen und praktizieren, um es mithilfe von klugen Einwänden, von Logik und Rhetorik zu verfeinern, ist für sich genommen keineswegs unschuldig und trägt erst recht nicht automatisch zur Lösung wirklicher Probleme bei. Vielfach lösen sich die Dinge, ob es gefällt oder nicht, von alleine, ohne dass Denken etwas ausrichtet oder einen Ausweg aus einer verfahrenen Situation hätte finden können. Hinzu kommt, dass das sogenannte reine Denken nicht selten unbeteiligt und gegenüber dem Leben gleichgültig bleibt. Die Logik und die bewährten Techniken des Schließens sind brauchbar, aber eiskalt. Sie denken ungerührt bis zum Ende, buchstäblich. Derart ungerührtes, kaltes Denken trägt dazu bei, mit guten Argumenten auch das Gegenteil einer Wahrheit als wahr erscheinen zu lassen und sie damit zu diskreditieren. Oft braucht es Jahre oder Jahrhunderte, bis der Irrtum eines cleveren, rhetorisch geschickt formulierten Gedankengangs aufgeklärt ist. Die Wahrheit hat es, wie jede Verschwörungs­theorie zeigt, schwer, die letzten Verfechter der Unwahrheit zu vertreiben. Denken trägt nicht selten dazu bei, die Probleme, mit denen wir uns abquälen, zu vermehren, statt sie zu lösen. Oft wird nur auf einer Metaebene weiterer Diskurse mit größerer Raffinesse das Problem reproduziert. Gerade weil es im Denken keinen Abschluss des Denkens gibt – so wie die Welt nicht innehält, sobald eine Wahrheit gefunden ist, sondern sich weiterentwickelt –, entstehen mit großer Regelmäßigkeit aus richtigen nicht nur neue, sondern falsche Gedanken. Auch das gehört zum Denken, das sich selbst mit den Mitteln der Kritik ins Wort fallen und sich unterbrechen muss, um immer wieder aufs Neue Klarheit zu gewinnen und richtige von falschen Aussagen zu unterscheiden. Leider ziehen selbst richtige Gedanken unerwünschte Nebeneffekte nach sich. Selten belässt es ein erfolgreicher Gedanke wie der, Materie in Energie umzuwandeln, beim Denken allein. Denken hat die Tendenz, sich auszuleben und zum Handeln zu werden. Doch niemals lassen sich alle Effekte eines Gedankens oder einer Handlung bis ans Ende ihrer Wirksamkeit berechnen. Selbst die besten Prognosen, wissenschaftlich fundiert und geprüft, versagen. Waren nicht die Chancen eines Atomunfalls praktisch gleich null, wie es heißt? In der Praxis waren sie es eben nicht. Und das gilt nicht nur für die Prognosen der Atomenergie, sondern auch in hohem Maß für die der Wirtschaft. Kritisches Denken mag zwar eine der wenigen Möglichkeiten bleiben, das Denken und zuweilen auch das Handeln in richtige Bahnen zu lenken, produziert aber unwillentlich neue Irrtümer und neue Nebenwirkungen: ein unabschließbarer Prozess.

»Kritisches Denken mag zwar eine der wenigen Möglichkeiten bleiben, das Denken und zuweilen auch das Handeln in richtige Bahnen zu lenken, produziert aber unwillentlich neue Irrtümer und neue Nebenwirkungen.«

Sosehr beide, das Nichtdenken ebenso wie das Denken, mit je eigenen Problemen verbunden sind, sowenig wurde bislang die Perspektive des NichtDenkens ernsthaft in den Blick gerückt und in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gewürdigt. Auch NichtDenken bleibt nicht ohne Risiken, bietet aber auch Möglichkeiten, die längst nicht ausgeschöpft wurden. Diese Möglichkeiten haben, wie der Essay zeigen will, entscheidend mit einer Transformation des Selbst und der Gesellschaft zu tun. NichtDenken, und nur das ist mit dem Titel gemeint, stellt ein Drittes neben Denken und Nichtdenken dar und bezeichnet eine Grundstruktur des Bewusstseins, die beidem, dem Denken wie dem Nichtdenken, zugrunde liegt. NichtDenken ist, ähnlich wie die Selbstlosigkeit, eine »Tiefenstruktur« des Bewusstseins. Empirisch belegen lässt sich dies, insofern nicht nur das Denken, sondern auch das von vielen so geschätzte Nichtdenken es lediglich mit Gedanken zu tun haben, die jedoch nur einen Teil dessen ausmachen, was Bewusstsein umfasst. Gibt es eine Möglichkeit, dieses Bewusstsein anders zu kultivieren als mithilfe von Logik, Gedankenketten oder Nichtdenken? Die Antwort darauf lautet eindeutig: Ja.

»NichtDenken ist, ähnlich wie die Selbstlosigkeit, eine »Tiefenstruktur« des Bewusstseins.«

In der Regel erscheinen Nichtdenken und Denken als ein sich bekämpfendes Zwillingspaar, dessen eine Hälfte mit Berufung auf das Prinzip kritischer Prüfung die Führung beansprucht, während die andere sich dieser Überlegenheit entziehen will, indem sie die Grundlagen zerstört. Sichtbar ist nur: Einer der Zwillinge behauptet, der jeweils andere wäre das Übel und Ursache aller nur denkbaren Probleme. Das Dritte jedoch, das weder Nichtdenken noch Denken, sondern NichtDenken ist, umgehen beide. Das NichtDenken, um das es in diesem Buch geht, bezeichnet eine Form der Praxis von Achtsamkeit, Mindfulness oder Meditation, die es in vielen Gestalten gibt. Gemeint sind mit Achtsamkeit ähnlich wie mit Meditation eine Reihe unterschiedlicher Techniken, die ihren Ursprung in der indischen Philosophie, im Yoga und im indischen Buddhismus haben. Dass Achtsamkeit heute überwiegend mit der Methode des MBSR (Mindfulness- Based Stress Reduction) identifiziert wird, ist eine Entwicklung, die erst knapp drei Jahrzehnte alt ist. Offener ist bis heute vermutlich der Begriff der Meditation, der vom bloßen Nachdenken über einen Text hin zu Atem- und Körperübungen reicht, aber auch ausgefeilte, sehr spezielle Formen der Konzentration und Bewusstseinsschulung umfasst. Sehr grob gesprochen meint Meditation an dieser Stelle eine Übung, die tiefer reicht und weitgehender als Achtsamkeit ist – eine letztlich auf die Transformation des Selbst und der Gesellschaft zielende Form der Praxis, die im Detail sehr unterschiedliche Formen annehmen kann.

»Wer weiterkommen und den Meeresboden erforschen will, wird den dritten Weg des NichtDenkens gehen müssen.«

Allerdings bedarf die grobe Unterscheidung der drei Formen von Denken der genauen Erläuterung und empirischen Überprüfung. Sie ist leicht missverständlich, weist aber in die Richtung der These, die dieses Buch bewegt und die es zu begründen sucht. NichtDenken ist weder das Denken, das wir kennen, noch ein gedankenloses Nicht-Denken oder Ausschalten des kritischen Denkens, sondern bezeichnet etwas anderes, das allerdings für die meisten Menschen ungewohnt und nicht selten völlig neuartig ist. Der Hauptgrund dafür ist, dass das Denken, das für erfolgreiche Problemlösungen im Bereich der Wissenschaften und Technologien steht und damit für eine Logik, die sich in vielen unterschiedlichen Bereichen wie Forschung, Politik oder Jurisprudenz bewährt hat, die dominante Form neutraler Aktivität geworden ist. Während dieses Denken tatsächlich technische Lösungen und zuweilen sogar Klugheit (prudentia) produzieren kann, wird das Nichtdenken, sofern es nicht bloße ideologische Forderung ist, lediglich in einem sehr begrenzten, eingehegten Rahmen akzeptiert. Nichtdenken ist erlaubt in ungefährlichen Momenten wie dem Betrachten eines Kunstwerkes (für dessen Produktion und nachträgliche Interpretation oftmals ein hohes Maß an Denkeinsatz notwendig ist), beim freien Tanzen, beim Auto- oder Fahrradfahren, in der Freizeit oder beim Feierabendbier. Nichtdenken und Denken mögen einander da, wo Routinen eingesetzt haben, zuweilen ergänzen; im Grunde ist jedoch das eine der Feind des anderen. Es hilft nicht, das Denken durch Nichtdenken verbessern zu wollen. Das wäre so, als wollte man den Schlag mit dem Golfschläger, der intuitiv und mit dem ganzen Körper geführt werden muss, durch kleinteiliges Denken verbessern. Wer die Nachteile von beidem, von Denken wie Nichtdenken, abmildern will, braucht eine Praxis, die anders und zugleich tiefer im Leben verankert ist als beide. Bildhaft gesprochen sind Denken und Nichtdenken lediglich einander überlagernde, zuweilen auslöschende Wellenberge und Täler auf dem bewegten Meer, während das Dritte, das NichtDenken, den gesamten Raum des Meeres samt seiner Tiefen darstellt. Wer weiterkommen und den Meeresboden erforschen will, wird den dritten Weg des NichtDenkens gehen müssen. Dies ist, vereinfacht gesagt, die These des Buches, an die sich weitere Überlegungen zur Transformation des Selbst, der Gesellschaften und Kulturen, der Ökonomien und der Unternehmen, der Politik und der Bildung, der Medien und der Institutionen anschließen.

...