Die Evolution der Täuschung

Die Evolution der Täuschung

Auszug aus Philipp Hübl »Bullshit-Resistenz«, Seite 5–17

Früher war die Welt noch in Ordnung. Da hatten Lügen im kleinen Familienkreis keine Auswirkung auf die Weltpolitik. Jetzt, in Zeiten digitaler Netze wie Facebook und Twitter, können sie internationale Konflikte auslösen. Ein Beispiel: Sie sei von drei »Südländern« vergewaltigt worden, erzählt die 13-jährige Lisa F. aus Berlin-Marzahn, als sie am 12. Januar 2016 nach Hause kommt. Am Tag zuvor haben die deutsch-russischen Eltern sie als vermisst gemeldet, weil sie nach der Schule nicht zurückgekehrt ist. Die Nachricht gelangt an die Presse und verbreitet sich schnell in den russischsprachigen sozialen Medien. Wie sich bald darauf herausstellt, hat Lisa F. gelogen, weil sie Probleme in der Schule hatte. Sie hat bei einem Bekannten übernachtet. Trotz einer Stellungnahme der Polizei breitet sich die Geschichte der Vergewaltigung weiter aus. Ein russischer Staatssender bezichtigt die deutschen Behörden der Vertuschung. Vor dem Kanzleramt in Berlin demonstrieren 700 Menschen für Lisa F. In Berlin-Marzahn demolieren Russlanddeutsche den Eingangsbereich eines Flüchtlingsheims und verletzen den Wachmann. Noch zwei Wochen später wirft der russische Außenminister Sergei Lawrow den deutschen Behörden vor, »die Wirklichkeit [...] politisch korrekt zu übermalen«, wofür ihn der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier scharf kritisiert.

Der Fall »Lisa F.« ist eine von zahlreichen Falschmeldungen, die in jüngster Zeit politische Bedeutung erlangten. Anfang Dezember 2016 reist Edgar Maddison Welch von North Carolina nach Washington D. C. und stürmt mit einem Gewehr die Pizzeria Comet Ping Pong, weil er im Internet gelesen hat, dass von dort ein Kinderpornografie-Ring agiert, dem auch Hilary Clinton angehört. Er feuert drei Schüsse ab, verletzt zum Glück niemanden und wird verhaftet. Der Schütze Welch hing einer im Internet weitverzweigten Verschwörungstheorie an, die sich unter dem Hashtag #pizzagate verbreitet hat.

Ende Dezember 2016 liest der pakistanische Verteidigungsminister Khawaja Asif auf einer Webseite den Text »Israels Verteidigungsminister: Falls Pakistan unter irgendeinem Vorwand Truppen nach Syrien schickt, werden wir dieses Land (Pakistan) mit einem Atomangriff zerstören«. Asif schreibt daraufhin über den Nachrichtendienst Twitter: »Israel vergisst, dass Pakistan auch eine Atommacht ist.« Die Nachricht auf der Webseite war frei erfunden.

Im Jahr 2012 verkündet die iranische Nachrichtenagentur Fars, wenn weiße US-Amerikaner aus ländlichen Gebieten die Wahl hätten, würden sie laut einer Umfrage eher für den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschād stimmen als für Barack Obama. Zudem würden 77 Prozent lieber zusammen mit Ahmadinedschād zu einem Baseballspiel gehen als mit Obama. Diese Nachricht stammt von der Satire-Webseite The Onion, von der die Nachrichtenagentur Fars wörtlich abgeschrieben hat, ohne zu bemerken, dass es sich um einen Scherz handelt.

»Im Zeitalter der digitalen Medien stehen Falschmeldungen, Satire und offensichtliche Verschwörungstheorien unterschiedslos neben gut recherchierten Nachrichten.«

Im Zeitalter der digitalen Medien stehen Falschmeldungen, Satire und offensichtliche Verschwörungstheorien unterschiedslos neben gut recherchierten Nachrichten. Das Problem ist offenbar nicht auf die Rezipienten der sozialen Medien beschränkt, sondern betrifft auch die Produzenten von Nachrichten. Manchen Mediennutzern scheint es schwerzufallen, Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. So kann Bullshit manchmal internationale Bedeutung erlangen.

In diesem Buch geht es um Bullshit im Zeitalter der digitalen Medien, und zwar in der weiten Alltagsbedeutung von »Unfug aller Art«, also um Lügen, Fake News, Verschwörungstheorien, Pseudowissenschaft und Geschwurbel. Im deutschen Sprachgebrauch bezeichnet »Bullshit« nämlich inzwischen wie im englischen alles, was falsch, gelogen, irreführend, unverständlich oder einfach so dahergesagt ist. »Bullshit« ist aber außerdem ein philosophisches Fachwort. Die philosophische Lesart ist enger gefasst und zielt nicht auf das Ergebnis, sondern auf den Vorgang, also die Bullshit-Produktion. Darum wird es ebenfalls in diesem Buch gehen. Der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt bezeichnet eine Person als »Bullshitter«, wenn sie einfach etwas behauptet, ihr die Wahrheit ihrer Aussage aber egal ist. Im Gegensatz zum Lügner sagt der Bullshitter nicht absichtlich etwas Falsches, sondern nimmt die Unwahrheit billigend in Kauf, zum Beispiel, weil er gebildet wirken möchte oder weil er online Geld mit gefälschten Geschichten verdienen will, die Aufmerksamkeit und damit Werbeeinnahmen erzeugen.

»Und wir alle waren schon Lügner, Bullshitter und vor allem Trottel. Wir haben einfach etwas geglaubt, weitererzählt und weitergeleitet, ohne es gründlich zu prüfen.«

Neben dem Lügner, der absichtlich die Unwahrheit sagt, und dem Bullshitter, dem die Wahrheit egal ist, gibt es nach meiner Analyse noch einen dritten Typus, und zwar den Trottel, der fahrlässig im Umgang mit der Wahrheit ist. Der Trottel macht sich nicht die Mühe, eine Information auf ihre Plausibilität oder ihre Quelle hin zu überprüfen, sondern denkt: »Wird schon stimmen.« Natürlich sind die Übergänge zwischen den drei Typen fließend. Entscheidend ist: Alle drei vermehren den Unfug in der Welt. Und wir alle waren schon Lügner, Bullshitter und vor allem Trottel. Wir haben einfach etwas geglaubt, weitererzählt und weitergeleitet, ohne es gründlich zu prüfen.

Wie ich in diesem Buch zeige, ist mit der Verbreitung von Bullshit, vor allem in den sozialen Medien, die Demokratie in Gefahr. Denn um das Leben der Menschen politisch zu verbessern, muss man sich zuallererst auf eine faktische Grundlage einigen, also darauf, wie es sich tatsächlich verhält. Der vieldiskutierte Vorschlag jedoch, durch neue Gesetze oder bessere staatliche Kontrolle Bullshit einzudämmen, entspringt einer falschen Idee. Wir können die Bewertung von Informationen nur bis zu einem bestimmten Punkt delegieren. Am Ende sind wir immer auf uns selbst gestellt.

Meine These lautet: Die Verantwortung für die Wahrheit liegt bei jedem Einzelnen. Um die Demokratie und uns selbst vor Bullshit zu schützen, müssen wir selbst resistenter, also widerstandsfähiger werden. Die dafür benötigte Bullshit- Resistenz bedeutet nicht nur, dass wir uns vor Fake News und anderem Unfug schützen, sondern auch, dass wir uns selbst davor bewahren, zum Lügner, Bullshitter oder Trottel zu werden. Insofern steht Bullshit-Resistenz in der Tradition der Aufklärung.

In seinem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« hat Immanuel Kant seinen Lesern geraten, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, aber leider nicht ausgeführt, wie das im Detail auszusehen hat. Kants Ratschlag, selbst zu denken, richtet sich vornehmlich gegen den Dogmatismus der Religionen. Heutzutage muss man ihn auf alle Arten ideologischer Beeinflussung ausweiten. Selbst zu denken heißt auch, sich selbst gegen Bullshit zu schützen. Und dafür muss man eine Antwort auf fünf Fragen geben.

Erstens: Warum lügen und täuschen Menschen?
Zweitens: Was ist Wahrheit?
Drittens: Warum breitet sich Bullshit im Internet aus?
Viertens: Warum sind wir überhaupt anfällig für Bullshit?
Fünftens: Wie können wir uns davor schützen?

Um diese fünf Fragen geht es in den folgenden Kapiteln.

TÄUSCHUNG UND LÜGE

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Die Evolution der Täuschung

Lügen und Täuschungen gehören seit Anbeginn der Menschheit zum Leben dazu. Wir lügen nicht nur, um uns einen Vorteil zu verschaffen, sondern greifen noch öfter zu Not- und Höflichkeitslügen. Wir lügen in der Familie, wenn wir unseren Kindern nach ihrem missglückten Vorspielen auf der Geige sagen: »Hast du toll gemacht.« Wir lügen in der Partnerschaft, im Beruf und im Freundeskreis. Das fängt mit Komplimenten und der Selbstdarstellung beim Kennenlernen an und endet mit der Antwort auf die Frage »Wie geht es dir?«: »Gut.« Wir versenden die SMS »Ich bin schon auf dem Weg«, obwohl wir das Haus noch gar nicht verlassen haben. Wir alle haben schon dutzendfach die weitverbreitetste Lüge unserer Zeit mit einem Klick online von uns gegeben: »Ja, ich habe die AGB gelesen.«

Natürlich wird in der Politik gelogen. Und in der Wirtschaft. Das muss gar kein großer Vertuschungsskandal um Emissionswerte von Dieselautos sein. Wer ein Produkt verkaufen will, wird immer die positiven Merkmale herausstreichen und die negativen verbergen. Gerade in der Werbung und im Marketing liegt viel im Zwielicht zwischen Suggestion und Lüge. Das Sicherheitspaket des Telefonanbieters zum Beispiel ist »kostenlos«, schlägt aber nach drei Monaten zu Buche. So steht es im Kleingedruckten, ist also keine Lüge. Aber doch nahe dran. Selbst die Wissenschaft ist nicht gegen Lügen gefeit. Das zeigen immer wieder spektakuläre Fälschungsskandale oder Plagiate bei Doktorarbeiten. Eine Meta-Analyse in der Lügenforschung legt nahe: Menschen mit hohem Bildungsstand lügen grundsätzlich mehr als Menschen mit niedrigem, und Männer lügen mehr als Frauen. Dafür hat das Alter keinen Einfluss auf die Ehrlichkeit: Jugendliche lügen genauso oft wie Erwachsene, Rentner genauso viel wie Berufseinsteiger. Laut einer aktuellen Umfrage lügen Menschen etwa zwei Mal pro Tag. Aber diese Zahl liegt sicherlich viel zu niedrig, denn Menschen lügen auch, wenn sie Fragebögen von Psychologen ausfüllen.

Beim Lügen handelt es sich dennoch um die Ausnahme und nicht den Normalfall. Gerade weil uns Wahrheit am Herzen liegt, fällt es uns normalerweise schwer zu lügen. In der Evolution hat sich offenbar die Fähigkeit zur Täuschung entwickelt, aber auch die Hemmung, davon allzu großzügig Gebrauch zu machen. Gerade deshalb stechen die selbstsüchtigen Lügen heraus, wenn sie enttarnt werden. Wir erinnern uns nicht mit Freude an die unzählbaren wahren Aussagen unserer Partner, sondern wir verspüren Zorn, wenn wir an diejenige Situation denken, in der sie uns angelogen haben.

Der amerikanische Evolutionsbiologe John Trivers argumentiert dafür, dass in der Entwicklungsgeschichte zwischen Täuschern und Getäuschten eine Art Wettrüsten stattgefunden hat. Je besser sich Beutetiere tarnten, desto feiner wurden die Sensoren der Jäger. Das war bei unseren Vorfahren nicht anders, die in Gruppen jagten. Täuschung spielt auch in der Gruppendynamik eine Rolle: Wer vortäuschen konnte, stark, einflussreich, verlässlich und fürsorglich zu sein, hatte bessere Chancen, einen hohen Status zu erlangen und so attraktive Partner zu finden, um Nachwuchs zu zeugen. Da auch hier die anderen in der Gruppe immer feinere Sensoren für Lüge und Betrug entwickelten, setzte ein Wechselspiel zwischen Täuschung und Enttarnung ein. Trivers meint, dass gerade diejenigen beim Lügen am glaubhaftesten waren, die sich selbst darin täuschen konnten, die Besten zu sein, denn sie wirkten beim Lügen besonders authentisch. In schwacher Form findet man diese Neigung in der alltäglichen Selbstüberschätzung. So hielten sich laut einer Studie 94 Prozent aller Professoren für überdurchschnittlich gute Dozenten. Und nahezu 100 Prozent aller befragten Studenten meinten, sie seien überdurchschnittlich freundliche und verträgliche Zeitgenossen. 

»Täuschung ist ein soziales Schmiermittel, das sogar in der Eigenanwendung wirksam ist.« 

Trivers liefert aber nicht nur eine überraschende Erklärung für den evolutionären Vorteil der Selbsttäuschung, denn gute Lügner tendieren dazu, sich zu überschätzen, ihre Geschichten selbst zu glauben und damit die anderen für sich zu gewinnen. Er kann auch unsere Fähigkeit und unseren Drang zur Täuschung erklären. Täuschung ist ein soziales Schmiermittel, das sogar in der Eigenanwendung wirksam ist. Wir erwarten geradezu, dass uns andere im Alltag sanft zu unserem Wohl täuschen. Nur für die hinterhältigen Täuschungen sind wir besonders sensibilisiert.

Durch die digitalen Medien ist ein neues Wettrüsten entstanden. Auf der einen Seite haben die Qualität und die Quantität von Täuschung und Manipulation zugenommen. Die neue Technik erlaubt anonyme und gezielte Manipulation durch Werbung, Ideologien, populistische Politik und religiösen Fanatismus. Auf der anderen Seite ist allerdings auch unsere Sensibilität für Wahrheitsmanipulation gestiegen. Die Preisfrage lautet: Wie wird dieses digitale Wettrüsten ausgehen? Wenn die digitalen Manipulationsversuche raffinierter werden, müssen wir mitziehen und die Sinne schärfen. Zurzeit sieht es aus, als würden die Täuscher den Kampf gewinnen. Daher müssen wir strategisch aufrüsten. Das heißt zuallererst, die Logik von Lügen und Bullshit genau zu verstehen.

Lügen und andere Täuschungsversuche

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