Die Ökonomie des Glücks

Die Ökonomie des Glücks

Auszug aus Stefan Klein »Die Ökonomie des Glücks«, Seite 5–17

Unzufriedenheit ist der Sprengsatz unserer Zeit. Obwohl die Menschen in den entwickelten Ländern einen nie da gewesenen Lebensstandard erreicht haben, obwohl sie historisch einmalige Rechte und Freiheiten genießen, obwohl sie Krieg und Gewalt fast nur noch aus den Nachrichten kennen, sind sie verbittert. Und aus ihrer Enttäuschung heraus sind immer mehr Menschen bereit, alles, was unsere Demokratien erreicht haben, infrage zu stellen.

Nur noch die Hälfte aller jungen Europäer hält Demokratie für die beste Staatsform. In Frankreich, Italien und Polen lehnte im Jahr 2017 bereits eine Mehrheit der Menschen unter 26 die Demokratie ab. Und nur noch ein knappes Drittel der Niederländer, Briten und US-Amerikaner unter 30 hält es für wesentlich, in einer Demokratie zu leben. Wenn unsere Gesellschaft weiter so bestehen soll, wie sie derzeit ist, brauchen wir eine Neuorientierung.

»Wenn unsere Gesellschaft
weiter so bestehen soll, wie sie
derzeit ist, brauchen wir
eine Neuorientierung.«

Unzufriedenheit nährt die Kräfte des Zerfalls. Plötzlich haben diese Kräfte selbst Länder erfasst, die als die stabilsten überhaupt angesehen wurden. Sie wirken sogar vor allem dort. Wer hätte sich noch vor fünf Jahren die heutige Welt vorstellen können? Niemand erwartete ernsthaft, dass rechtsextreme Abgeordnete als Vertreter der größten Oppositionspartei in den Bundestag einziehen und die Agenda der bürgerlichen Parteien bestimmen würden. Dass ein Milliardär ohne jede politische Erfahrung, der auf seinen Wahlversammlungen Schlägereien anheizt und potenziell gefährlichen Personen Schweigegelder auszahlen lässt, die Macht im Weißen Haus übernimmt, galt als ungefähr so wahrscheinlich wie der Zusammenstoß der Erde mit einem Asteroiden. Nur notorische Schwarzseher sahen voraus, dass Rechtsradikale in Italien Regierungsverantwortung tragen und dass sich eine Mehrheit der Briten für den Bruch mit der Europäischen Union aussprechen würden. Und undenkbar erschien es, dass unsere östlichen Nachbarn, die der friedlichen Revolution von 1989 den Weg bereiteten, freiwillig die in dieser Revolution erkämpften Freiheiten aufgeben würden. Mit Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit setzten die Regierungen Polens und Ungarns das liberale System außer Kraft.

Weniger sichtbar, aber nicht minder besorgniserregend, verschiebt sich das Gefühlsleben der Menschen. Von Jahr zu Jahr erliegen in Deutschland wie in allen Industrieländern mehr Frauen und Männer schweren Depressionen. Noch stärker sind Jugendliche und junge Erwachsene betroffen. Sie leben heute mit einem dreimal höheren Risiko, diesem Leiden zu erliegen, als noch vor zehn Jahren. Schwere Depressionen werden in 20 Jahren Frauen mehr zusetzen als jede andere körperliche oder seelische Krankheit. Unter Männern werden einzig Herz- und Kreislaufleiden noch mehr Verheerung anrichten. So sagt es die Weltgesundheitsorganisation voraus. Die Depression droht zu einer Pest des 21. Jahrhunderts zu werden.

Das krankhafte Unglück breitet sich buchstäblich wie ein Seuchenzug aus. Menschen stecken einander nämlich mit ihrer Niedergeschlagenheit an. Und wie die Pest im Mittelalter, so können Depressionen nicht nur einen Menschen zugrunde richten, sie verändern auch die Gesellschaft. Nach amerikanischen Schätzungen kosteten Depressionen die Wirtschaft des Landes im Jahr 2015 mindestens 210 Milliarden Dollar, mit zweistelligen Steigerungsraten. Der größte Teil der Frühverrentungen in Deutschland geht auf ihr Konto. Wer ernsthaft an einer Depression erkrankt ist, zieht sich völlig zurück. Die krankhaft niedergeschlagene Stimmung bewirkt, dass immer mehr Menschen die eigenen Belange und die Bedürfnisse anderer gleichgültig werden. In aller Stille zerstören Depressionen den Zusammenhalt in der Gesellschaft.

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Kontinent der Pessimisten

Nicht erst der Abbau des Sozialstaats, Migration oder Digitalisierung brachten Millionen Menschen von ihrem Glauben an den liberalen Staat ab. Diese Entwicklungen markieren allenfalls die letzten Stationen einer langen Entfremdung. Die Ursachen liegen, wie in jeder Trennungsgeschichte, viel tiefer.

Aufschlussreich ist ein Blick in die European Social Survey, eine Umfrage, die alle zwei Jahre die Stimmung und die Meinungen auf unserem Kontinent erhebt. Unter anderem sollen die Interviewten zu einem Satz Stellung beziehen, der es in sich hat: »Für die meisten Menschen im Land wird das Leben schlechter.« 63 Prozent der befragten Deutschen stimmten bei der letzten Erhebung im Jahr 2012 zu. 18 Prozent vertraten ihren Pessimismus sogar mit besonderem Nachdruck. Dabei war die Wirtschaft in glänzender Verfassung, im Vorjahr der Befragung wuchs sie um satte 3,7 Prozent.

Mit German Angst hat diese Stimmung nichts zu tun – in Großbritannien erwarteten 66, in Frankreich sogar 84 Prozent der Menschen eine düstere Zukunft. Der Pessimismus ist auch keine Momentaufnahme. Als im Jahr 2006, noch vor der Finanzkrise, diese Variable zum ersten Mal abgefragt wurde, meinten sogar 70 Prozent der Deutschen, dass sich das Leben zum Schlechteren entwickle. Auch damals brummte die Wirtschaft.

Inzwischen haben wir erlebt, wie sich die rabenschwarze Stimmung in Wahlentscheidungen übersetzt. Fast 60 Prozent der AfD-Wähler geben an, »Angst vor dem, was kommen wird«, zu haben. Auch 43 Prozent der Anhänger der Linkspartei stimmen zu. Noch ausgeprägter war das Gefälle, als Interviewer im Jahr 2018 die Reaktionen auf die Aussage »Wenn das weitergeht, sehe ich schwarz für Deutschland« testeten. 83 Prozent der AfD-Wähler und 53 Prozent der Wähler der Linkspartei identifizierten sich mit dieser Behauptung. In beiden Fällen meinte ein Drittel der Gesamtbevölkerung, der jeweilige Satz beschreibe die Lage.

»Denn die Hoffnungslosigkeit ist der
kleinste gemeinsame Nenner, auf
den unsere zunehmend zerrissene
Gesellschaft sich einigen kann.«

Die Untergangsstimmung wundert uns weder, noch erschreckt sie uns. Wir haben uns längst an sie gewöhnt. Wir können dem Hängenlassen der Köpfe sogar etwas Erfreuliches abgewinnen, weil es tröstet. Denn die Hoffnungslosigkeit ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den unsere zunehmend zerrissene Gesellschaft sich einigen kann. Wenn Industrielle, Bildungsbürger und entlassene Kohlearbeiter sich noch auf irgendetwas zu verständigen vermögen, dann darauf, dass wir die besten Zeiten hinter uns haben.

Unsere Gesellschaft hat das Träumen verlernt. Sie ist bitter geworden. Schlimmer noch, wir nehmen den Defätismus nicht mehr als das wahr, was er ist – eine moralische Bankrotterklärung.

Denn kann man sich eine schmerzlichere Ohrfeige für die Politik vorstellen als die gerade genannten Zahlen? Eine überwältigende Mehrheit der Bürger glaubt nicht mehr an eine bessere Zukunft. Sie haben nicht einmal die Hoffnung, dass die Demokratie imstande ist, eine Wende zum Schlechteren zu verhindern. Ihr Vertrauen in das System, in dem sie leben, ist dahin. Die ständig zunehmenden Zweifel des Volkes an der Macht, oft auch am guten Willen ihrer gewählten Vertreter, sind die Leiche im Keller unserer Demokratie.

Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung, die eine düstere Zukunft voraussehen, erwarten sich allerdings auch nichts mehr von der Wirtschaft. Jedenfalls bezweifeln sie, dass die Unternehmen in der Summe die Zustände zum besseren ändern. Dabei können nicht einmal die größten Pessimisten bestreiten, dass wir mit der leistungsfähigsten Ökonomie gesegnet sind, die es auf diesem Planeten je gab. Diese Wirtschaft bringt unablässig technischen Fortschritt, neue Produkte und steigenden Wohlstand hervor. Nur verspricht sich die Mehrheit der Deutschen davon kein besseres Leben mehr.

Was könnte das sein, ein besseres Leben? Das ist der Hintersinn der Frage, die die Interviewten in der European Social Survey zu beantworten hatten: Wenn sie meinen, dass sich das Leben zum Schlechteren ändert, müssen sie schließlich eine Vorstellung haben, wie ein erstrebenswertes Dasein aussehen würde. Oder anders gefragt: Was eigentlich sollen Politik und Wirtschaft für die Menschen erreichen?

Die mächtigste Zahl der Menschheitsgeschichte

Das 20. Jahrhundert hatte ein Leben in Würde, auch Wohlstand und Aufstieg für alle versprochen. Dies war der Anspruch der westlichen Demokratien: Zweck der Politik sollte nicht länger die Verherrlichung eines Herrschers oder des Vaterlands sein, sondern das Wohl jedes einzelnen Bürgers. Die Mittel waren einerseits Gewaltenteilung und Rechtsstaat, andererseits eine florierende Wirtschaft. Erstere ließen ein Ende der Willkür erhoffen, letztere stellen einen immer weiter steigenden Lebensstandard in Aussicht.

Das Ziel erklärt beispielsweise das Godesberger Programm, mit dem für die deutsche Sozialdemokratie im Jahr 1954 eine neue Epoche begann. Die Grundsätze, mit denen die SPD antrat, Regierungsverantwortung zu übernehmen, prägen nicht nur bis heute diese Partei, sie sind typisch für das Denken in der deutschen und in allen europäischen Nachkriegsdemokratien. Die Vorstellung vom guten Leben, an dem die Gesellschaft sich ausrichten solle, beschreibt die Präambel »als Hoffnung dieser Zeit«. Diese sei, »daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann«.

Jedem Haushalt eine Geschirrspülmaschine, jedem Bürger eine Krankenversicherung, jedem Arbeiter seinen Mercedes! So sehen die goldenen Zeiten aus, die fast gleichlautend Politiker aller Couleur ihren Wählern verhießen und noch immer verheißen. Kaum zufällig füllt die Wirtschaftspolitik unter allen Ressorts die weitaus meisten Seiten im Godesberger Programm. Für Begriffsstutzige erklären die ersten Sätze dieser Passagen noch einmal überdeutlich, worum es geht: »Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist stetig wachsender Wohlstand«, zu erreichen durch »stetigen Wirtschaftsaufschwung«.

Dass sich Wohlstand in Wohlbefinden übersetzt, klingt durchaus logisch. Wer mehr Geld in der Tasche hat, kann sich mehr Wünsche erfüllen. Er hat auch mehr Möglichkeiten, das Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Und bringt Geld schließlich, richtig eingesetzt, nicht persönliche Freiheit? Mit solchen Argumenten legte die Politik ihre Messlatte: Ihr Anspruch lautet seither, das Wohlbefinden der Bürger durch Wohlstand zu steigern.

»Wenn die Leute jedes Jahr mehr in
der Tasche haben: Wer könnte dann
noch den Fortschritt bestreiten?«

Noch etwas sprach für diese Strategie. Bei den meisten Regierungsentscheidungen kann im Nachhinein kein Mensch beweisen, dass sie gut waren. Es fehlen schlicht klare Kriterien dafür, ob beispielsweise sich die Bürger von den Mächtigen gehört fühlen, oder ob sich verschiedene Bevölkerungsgruppen vertragen. Geht es aber um Wohlstand, ist der Maßstab klar. Wenn die Leute jedes Jahr mehr in der Tasche haben: Wer könnte dann noch den Fortschritt bestreiten? Und den Bürgern gefällt es, sich immer schnellere Autos, schönere Häuser, weitere Reisen zu leisten.

Aufzeigen lässt sich der Erfolg sogar an einer einzigen, griffigen Zahl – dem allmonatlich rituell in den Fernsehnachrichten verkündeten Wirtschaftswachstum. Die prozentuale Veränderung des Bruttoinlandsprodukts wurde in den Nachkriegsjahren in Deutschland wie in allen Industrieländern die Trophäe der Politik. Und das ist die Ziffer vor dem Komma bis heute geblieben. Das Bruttoinlandsprodukt entwickelte sich, wie der Berliner Politologe Philipp Lepenies es ausdrückt, zur »mächtigsten Zahl in der Menschheitsgeschichte«.

Nicht, dass der jährliche Geldertrag einer Volkswirtschaft – nichts anderes ist das Bruttoinlandsprodukt – und sein Wachstum unwichtig wären. Es bedeutet für ein Land dasselbe wie für ein Ehepaar die Summe der Einkommen beider Partner: Das Bruttoinlandsprodukt misst den Zufluss in die Haushaltskasse, der zu verteilen steht. Wer mehr erwirtschaftet, kann sich nicht nur mehr Wünsche erfüllen, sondern auch mehr für Ziele wie Gesundheit, Bildung und Kultur ausgeben, die das Leben langfristig lebenswert machen.

Allerdings sind dem Konzept schon in einer eng ökonomischen Betrachtung Grenzen gesetzt. Keineswegs alles, was Menschen füreinander tun, lässt sich schließlich in Euro und Dollar berechnen. Wie etwa wäre es zu bewerten, wenn unsere Ehepartner Abende lang sich gegenseitig ihre Bürosorgen anhören und mit gutem Zuspruch einander bei der Stange halten, damit sie den Stumpfsinn ihrer Arbeit ertragen? Sollten die geleisteten Tröstungen nicht in die Gesamtrechnung eingehen, weil es ohne sie gar kein Einkommen gäbe?

Das Bruttoinlandsprodukt hat den gleichen Defekt. Es ist blind für alle Leistungen, die nicht in Geld zu messen sind. Wenn eine Person ihren gebrechlichen Schwiegervater pflegt, trägt sie nicht zum Wirtschaftswachstum bei. Sehr wohl aber steigert das Bruttoinlandsprodukt, wer sich beschwipst hinter das Steuer setzt und auf der Autobahn eine Massenkarambolage verursacht, bei der ein Dutzend Menschen verletzt wird und einige sterben. Die Profite der Schrottplätze und Neuwagenverkäufer, die Löhne der Ärzte und Totengräber gehen nämlich sehr wohl ins Kalkül der Statistiker ein.

Das Ende des amerikanischen Traums

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