Einhörner als Wegweiser in eine andere Zukunft

Einhörner als Wegweiser in eine andere Zukunft

Auszug aus Joël Luc Cachelin »Einhorn-Kapitalismus«, Seite 14–21

Einhörner als Hoffnungsträger

Die Einhörner erscheinen uns in Zeiten der Veränderung. Ihre dreifache Symbolik als Hoffnungsträger, Patrone des Queren und Verkünderinnen eines Epochenwandels passt bestens zur Gegenwart, die viele als komplex und verunsichernd wahrnehmen. Verantwortlich für die Destabilisierung sind drei Aspekte des technologischen Fortschritts: Globalisierung, Digitalisierung und Urbanisierung. Andere bezeichnen diese Kräfte als Metatrends. Sie wirken noch langfristiger und tiefgreifender als Megatrends, deren Lebensdauer man auf 25 Jahre schätzt. Globalisierung, Digitalisierung und Urbanisierung finden nicht nur gleichzeitig statt, sie verstärken sich auch gegenseitig. Es resultiert eine umfassende planetare Transformation. (...)

Will die Menschheit an diesen Übergängen nicht zerbrechen, bedarf es einer neuen Infrastruktur. Unsere Ansätze, um den Planeten mit Mobilität, Energie, Medizin, Ernährung, Bildung und Daten zu versorgen, sind überholt. Sie sind ineffizient, umweltschädlich, ressourcenverschwenderisch, wenig personalisiert, wirken polarisierend. Erschwerend wächst die Bevölkerung gemäß den Zahlenspielen der UN bei mittleren Geburtenraten bis 2100 auf elf, bei hohen Geburtenziffern gar auf fünfzehn Milliarden. Wir werden älter, durchmischter, urbaner, gebildeter, anspruchsvoller, mobiler. Roboter, Drohnen und künstliche Intelligenzen nisten sich in unserer Gemeinschaft ein. Um die Infrastruktur des Planeten zu erneuern, braucht es Innovation der Innovation. Nicht nur sind neue Ideen gefragt, sondern auch neue Ideen, wie wir zu diesen Ideen kommen.

So betrachtet, sind die Einhörner Hoffnungsträger, um die Infrastruktur der Zukunft zu errichten und gleichzeitig die potenziellen Konflikte der planetaren Transformation im Keim zu ersticken. Mit ihrem Erscheinen verbindet sich die Hoffnung auf neue Arbeitsplätze, wenn sie einst groß und unabhängig von ihren Venture-Kapitalisten geworden sind. Vielleicht gelingt es ihnen gar, die Geschichten über die Zukunft positiv einzufärben. Regenbogenfarbige Horizonte sind dringend nötig. Nicht wenige sehen sich als Verlierer von Globalisierung, Digitalisierung und Urbanisierung. Die Kommentarspalten der Leitartikel entblößen ihre Wut. Besonders gut zu beobachten war der Frust im Herbst 2019 in Frankreich, als sich »Paris verbarrikadierte«. Die Gelbwesten wehrten sich gegen Reformen der Regierung, um die digitale Transformation zu meistern. Doch bei einem Medianlohn von 1700 Euro netto brachte die Forderung nach höheren Treibstoffpreisen das Fass zum Überlaufen.

Die Versprechen der Digitalisierung weichen einem breiten Technikskeptizismus. Es misslingt uns, aus dem Analysieren auszubrechen, Freiräume zu schaffen, um die planetaren Herausforderungen zu meistern, hoffnungsvolle Geschichten über die Zukunft zu erzählen. Während die einen an ihren Privilegien festhalten, erkennen andere keine Möglichkeiten, mitzugestalten. Populisten nutzen die Verunsicherung, um ihre Agenda voranzutreiben. Mitten in diesem verstörenden Vakuum treten die Einhörner auf. Unser Zweifeln nehmen sie als Hilferufe wahr. Nicht alle beklatschen ihren Auftritt, Haters denunzieren sie als Spielzeuge der Kapitalisten. Statt Probleme zu lösen, wiehern sie dümmlich, streuen uns Glitzerstaub in die Augen, verführen uns mit absurden Versprechen, fesseln uns an die Bildschirme. Wir sollen die Brisanz der Lage verkennen, keine kritischen Fragen stellen.

Einhörner als Patrone des Queren

Im selben Moment, da die Geldströme Einhörner gebären, unterwandern diese die Popkultur. Was gemäß überlieferten Erzählungen rar und außergewöhnlich sein sollte, sieht man nun an jeder Ecke. Vollgeflutet vom Regenbogenstaub präsentiert sich das Netz. Schminke, Brotaufstrich, Kinderpflaster, Luftmatratzen und der fast vergessene Onesie sind nun als Unicorn-Variante erhältlich. Für Partys, Katzen und Hunde werden aufsetzbare Monohörner präsentiert. In den Niederungen des Netzes stößt man auf Pizzas mit »Einhorn-Kotze« und Einhorn-Klopapier mit Zuckerwatteduft. Ritter Sport lancierte eine Sonderedition aus weißer Schokolade, Joghurt und Himbeeren. Die 150.000 Tafeln waren innerhalb eines Tages ausverkauft. Sogar ein Emoji hat das Fabeltier. Wir verschicken es, wenn uns etwas schräg erscheint oder besonders lieb ist. Wo sie herkommen, gibt es keinen Krieg, keinen Hass, keine Krankheiten. Umweltzerstörung, Angst und Langeweile bleiben aus. Niemand wird ausgegrenzt, alle dürfen so sein, wie sie sind.

Besonders beliebt ist das Fabelwesen in der LGBTQI-Community. Man wurde ausgestoßen, diskriminiert, herabgesetzt. Mithilfe des Einhorns erobern ihre Anhänger den Stolz auf ihre Andersartigkeit zurück. Diese Hoffnung auf eine farbigere, leichtere, unkompliziertere Welt erklärt seine Popularität. Wir erleben einen zweiten Kalten Krieg, schlagen uns mit populistischen Herrschern herum, mit demonstrierenden Rechtsradikalen, drohenden Naturkatastrophen, selbst gelegten Bränden in den Regenwäldern Südamerikas, der Angst vor Terroranschlägen und Flüchtlingswellen, einer alternden Gesellschaft mit exponierten Sozialversicherungen, der Überwachung durch Datengiganten und überwunden geglaubten geopolitischen Scharmützeln. Gut möglich, dass Anonymisierung, Virtualisierung und Berechenbarkeit der algorithmisch gelenkten Großstadt die Sehnsucht nach dem Fantastischen verstärken. Wir möchten mehr sein als Automaten, in unserer Individualität so viel Aufmerksamkeit wie ein Einhorn genießen.

»Einhörnige Zukünfte sind gewagter, fröhlicher, kindlicher, farbiger, queerer. Es hat Platz für die Ausrangierten, Aus-der-Reihe-Tanzenden, Unangepassten. Endlich wird das Fantastische wahr.«

Queres, Extravagantes, Außergewöhnliches aufzuspüren ist die Mission der einhörnigen Gründer und ihrer Investoren. Nur was vom Gewöhnlichen abweicht, sich überraschend differenziert, das Bestehende überbietet, lässt auf eine güldene Zukunft hoffen. Was zu wenig unique ist, erhält keinerlei Aufmerksamkeit, schafft es nicht einmal ins Vorzimmer der Venture-Kapitalisten. Einhörnige Zukünfte sind gewagter, fröhlicher, kindlicher, farbiger, queerer. Es hat Platz für die Ausrangierten, Aus-der-Reihe-Tanzenden, Unangepassten. Endlich wird das Fantastische wahr. Elon Musk will mit SpaceX zurück zum Mond, auf den Mars, zu den Asteroiden und noch viel weiter. Bei Ginkgo Bioworks werden unsere Zellen zu Medikamentenfabriken. Die Organismusingenieure lernen von der Natur, neue Organismen zu entwickeln, die Technik durch Biologie ersetzen.

Flüchtige Fabelwesen sind indes schwer zu domestizieren. Sie versprechen viel und müssen in der Gegenwart wenig beweisen. Großes Denken bewirkt Neid. Wenige sind verrückt genug, die Potenziale des Andersartigen nachzuvollziehen, nicht alle verspüren Lust auf eine neue Welt, in der nichts mehr sicher ist, was jetzt gewiss erscheint. Viele Digitalskeptiker, Gewinner der Old Economy und Gewohnheitstiere sind glücklich, wenn sie sich nicht verändern müssen. Sie ahnen, dass in der Zukunft die Erträge der Vergangenheit wegbrechen und neue Fähigkeiten, Haltungen und Werte gefragt sein werden. Das teilt uns in vier Gruppen. Die erste verehrt die einhörnige Erneuerungskraft. Andere befürchten, ihre in der vordigitalen Welt angehäuften Privilegien einzubüßen. Wieder andere halten die Versprechen der Einhörner für übertrieben, wenn nicht Schummelei. Derweil schuften die »Modernisierungsverlierer« in mehreren Minijobs und schauen dem Treiben ratlos zu.

Einhörner als Boten eines Epochenwandels

Der Kapitalismus ist ein Operating System, das sich stetig weiterentwickelt. Dazu muss er neue Märkte erschließen. Es sind Novitäten, für die wir bereit sind zu bezahlen. Unternehmer verdienen an ihnen, Investoren vergrößern ihr Kapital. Alte Märkte lösen sich auf, neue entstehen. Einhörner vollziehen schöpferische Zerstörung – mit der Joseph Schumpeter schon vor fast hundert Jahren die Dynamik des Kapitalismus erklärt hat. Besonders kräftigen Exemplaren traut man zu, nicht nur Märkte umzudeuten. Gleichermaßen sind soziale Umbrüche zu erwarten: Cyberstaaten, strukturelle Arbeitslosigkeit oder das Ende der Privatsphäre. Durch die rosarote Brille betrachtet, diagnostizieren die Einhörner Krebs früh genug, um ihn zu behandeln, verlängern die Lebenserwartung. Sie fördern neue Mobilitätsträger, und wen würde es wundern, wenn sie neue Energieformen entdecken oder Kontakte zu extraterrestrischen Lebensformen herstellen?

»Durch die rosarote Brille betrachtet, diagnostizieren die Einhörner Krebs früh genug, um ihn zu behandeln. Sie fördern neue Mobilitätsträger, und wen würde es wundern, wenn sie neue Energieformen entdecken oder Kontakte zu extraterrestrischen Lebensformen herstellen

Im Einhornkapitalismus orientieren sich die Geschäftsmodelle an Skalierbarkeit. Der Wunsch nach schnellem Wachstum zwingt Unternehmen, ihre Prozesse und Produkte zu standardisieren, global tätig zu sein und möglichst viele Aktivitäten an Drohnen, Automaten, Roboter, Algorithmen und künstliche Intelligenz zu delegieren. Erst dann sinken die Kosten (und steigen die Profite) exponentiell. Diese Mechanismen und die hohen Investitionskosten, um zu einer global tätigen Plattform aufzusteigen, sprechen für eine Wirtschaft, in der wenige Monopolisten die Märkte dominieren. Doch je größer und mächtiger die Plattformen, desto wahrscheinlicher wird ein wirtschaftlicher Systemwandel. Eine Krise zwänge uns, das Wirtschaften neu zu denken. Die kapitalistische Logik änderte sich, die Gewinner der Vergangenheit würden zu Verlierern. Neue Prinzipien der Vermessung wirtschaftlicher Leistung müssten sich durchsetzen.

Die Anzeichen für einen Systemwandel verdichten sich, sollten die Einhörner gar keine neuen Märkte erschließen, sondern nur bestehende Opportunitäten und deren Gewinne an neue Akteure verteilen. Wie ist die Wertschöpfung von Didi (Taxi), Juul (E-Zigaretten), N26 (Bank) aus dieser Perspektive zu beurteilen? Wenn die Einhörner nur zu Re-Organisation und Effizienzsteigerung führen, könnten zu viele Menschen aus dem System gedrängt werden, die Verliererinnen ohne Jobs, Zukunftsaussichten und Mitbestimmungsrechte rebellieren. Misstrauisch würden sich die User vielleicht von allzu großen Anbietern abwenden. Sie entzögen den Plattformen die Daten, blockierten durch Demonstrationen, Terrorakte und Verzicht die Zentren der Menschen-, Waren- und Kapitalflüsse. Die Einhörner würden sich durch ihre Gier und die Vernachlässigung des Gemeinwohls selbst zugrunde richten.

Disruption könnte sich durch die Einhörner (ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt) also auf der Systemebene wiederholen – in der Art und Weise, wie Kapitalismus funktioniert. Eine neue kapitalistische Epoche setzte neue Währungen und Währungsräume voraus. Die Geldströme erhielten neue Verteiler, Wächter, Multiplikatoren. Anders betrachtet, künden die Einhörner durch den Ekel vor dem Kapitalismus der Extreme eine Gegenwirtschaft an. In dieser floriert das Nicht-Einhörnige: das Menschliche, Handwerkliche und Regionale. Der Systemwechsel würde eine Wirtschaft des Teilens, der Langsamkeit und geschlossenen Kreisläufe hervorbringen. Während das eine Lager in diesem Wandel regulieren oder gar verbieten will, votiert das andere für Befähigung. Durch Bildung und soziale Innovation soll das Alternative so richtig aufblühen.