»Viren machen vor Grenzen nicht halt«

»Viren machen vor Grenzen nicht halt«

Im Gespräch zur Corona-Krise #1 mit Prinz Asfa-Wossen Asserate

Wie geht es Ihnen, Herr Asserate? Wie hat sich Ihr Alltag in den letzten Wochen verändert?

Es hat sich alles verändert. Ich glaube, ich bin in den letzten Jahren noch nie so lange zu Hause gewesen wie in den letzten drei Wochen. Alle Termine, Vorträge und Lesungen sind abgesagt. Das hat mir Gelegenheit gegeben, mich wieder einmal an Gibbons Geschichte des Untergangs des Römischen Reiches zu wagen, die ich seit meiner Studienzeit in Cambridge nicht mehr in der Hand hatte. Darin entdeckte ich eine Stelle, die uns die jetzige Krise in einem anderen Licht sehen lässt. Gibbon zufolge sind im Jahr 268 n. Chr. in Rom an einem einzigen Tag über 5000 Menschen von der Pest dahingerafft worden. In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder schwere Zeiten gegeben. Möge es diesmal nicht so schlimm kommen.

Die Corona-Krise hat die Welt, wie wir sie kennen, innerhalb kürzester Zeit verändert. Europa gilt neben den USA inzwischen als Epizentrum der Pandemie. Wie sieht die Lage in Afrika aus?

Noch gut im Vergleich zu Europa und Amerika. Aber dies vor allem deshalb, weil Millionen von Menschen nicht getestet sind. Ich sehe in der Krise eine neue Philosophie, die wir uns aneignen müssen: Das Denken in Staaten und Grenzen wird sich die Welt nicht länger leisten können. Solche Pandemien zeigen uns, dass Viren vor Grenzen nicht haltmachen, und auch nicht vor Kontinenten. Wir müssen verstehen, dass die Welt nur dann dauerhaft zur Normalität zurückfinden kann, wenn das Virus überall, also auch in Afrika besiegt sein wird. Die Afrikaner sehen erstaunt, wie unter der Last der Kranken die Gesundheitssysteme in Ländern zusammenbrechen, die für sie doch als das Paradies galten. Und sie beginnen sich auszumalen, wie schlimm es in ihren eigenen Ländern werden kann.

Der Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller, formulierte es vor Kurzem so: »Corona besiegen wir nur gemeinsam in der Welt oder gar nicht.« Was kann die Weltgemeinschaft tun, um die Ausbreitung des Virus in Afrika zu verhindern?

Die meisten Afrikaner sterben heute nicht an Pandemien, sondern an Durchfall infolge mangelnder Hygiene und an Hunger. Äthiopien, Eritrea, Kenia und Djibouti werden seit Monaten von einer Heuschreckenplage heimgesucht; dadurch allein sind über 25 Millionen Menschen akut vom Hungertod bedroht. Es geht also nicht nur darum, Afrika coronafrei zu machen. Es reicht nicht aus, Masken und Schutzanzüge zu liefern. Die Gesundheitssysteme müssen auf Vordermann gebracht werden. Die sogenannten Gesundheitsstationen, nicht zu vergleichen mit westlichen Krankenhäusern, sind die Basis der Gesundheitsversorgung in vielen afrikanischen Ländern, sie sind die Zentren für Information und Aufklärung. Als allererstes brauchen sie Strom, damit das Gesundheitspersonal seine Handys aufladen kann und um erreichbar zu sein. Aber vor allem, damit sie ihre Arbeit auch nach Sonnenuntergang fortsetzen können.

Über 70 Millionen Menschen weltweit sind derzeit auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder unter 18 Jahren. Sie leben in Lagern unter katastrophalen hygienischen Bedingungen – Zehntausende auch in Europa, zum Beispiel auf Lampedusa oder auf Lesbos. Die EU diskutiert seit Wochen über eine mögliche Evakuierung, passiert ist immer noch nichts …

Es ist sehr traurig, dass Europa seine eigenen Werte verrät und die Menschen, mitten auf dem eigenen Kontinent, sehenden Auges dem Corona-Tod ausliefert. In den heillos überfüllten Lagern ist ein Schutz vor dem Virus unmöglich, es muss dringend etwas getan werden! Auch die Verträge, die die europäischen Länder mit Libyen geschlossen haben, um Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten, müssen schnellstmöglich aufgekündigt werden. In den Massenlagern dort sind Mord, Totschlag, Vergewaltigung und Sklaverei an der Tagesordnung. Wir müssen begreifen: À la longue werden weder Mauern oder gar die Entsendung von NATO-Truppen in die Anrainerstaaten die Menschen in Afrika aufhalten. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die jungen Leute, die ohne Perspektive sind, die Möglichkeit erhalten, in ihren eigenen Ländern ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Anders geht es nicht.

Sie sind gläubiger Christ. Auch die Kirchen sind derzeit geschlossen und Gottesdienste verboten. Wie werden Sie das Osterfest verbringen?

Gott ist überall zu finden – Gott sei Dank! Inzwischen glaube ich sagen zu dürfen, dass ich die Riten der äthiopisch-orthodoxen wie auch der römisch-katholischen Kirche gut genug beherrsche, dass ich auch – in der Not – die Rolle des Pfarrers selbst übernehmen kann. Die Konsekration und das heilige Abendmahl müssen allerdings leider ausfallen, das hole ich nach, sobald die Gotteshäuser wieder offen sind.

Trotz alledem: Wir wünschen Ihnen Frohe Ostern. Und bleiben Sie gesund!

 

Prinz Asfa-Wossen Asserate ist Unternehmensberater und politischer Analyst und einer der besten Kenner des afrikanischen Kontinents. Er gründete unter anderem den Verein Pactum Africanum, der sich der Förderung des Dialogs zwischen den Abrahamitischen Religionen in Afrika widmet. Für seine Bücher wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Jacob-Grimm-Preis. Zu seinen Bestsellern zählen Manieren (2003) und Deutsche Tugenden (2014). Bei Nicolai erschien sein Buch Den Glauben zur Vernunft, die Vernunft zum Glauben bringen.