Religion und Aufklärung

Religion und Aufklärung

Auszug aus Asfa-Wossen Asserate »Den Glauben zur Vernunft,
die Vernunft zum Glauben bringen«, Seite 31–41

Von alters her ist die Religion für die Menschen ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen – und bis vor nicht langer Zeit galt dies auch in Europa. Der Mensch, so lautete die von jedermann geteilte Gewissheit, ist anthropologisch auf Religion hin angelegt. Religion war gleichbedeutend mit Vernunft und ein nicht-gläubiger Mensch ein Wesen, dem etwas fehlte, was grundlegend zum Menschsein gehörte. Gesellschaften ohne Religion, so die frühere Überzeugung, sind Ausdruck menschlicher Hybris und deren moralischer Verfall nur eine Frage der Zeit.

Im Zeitalter der Aufklärung hat sich diese Sichtweise für nicht wenige Menschen des westlichen Kulturkreises ins Gegenteil verkehrt: Religion, so die Ansicht, ist etwas geschichtlich Überholtes, gläubige Menschen von Gestern und Fortschrittsverweigerer. Der Prozess der Säkularisierung ist unaufhaltsam, der Siegeszug der Vernunft im Zuge der fortschreitenden Modernisierung wird, früher oder später, unweigerlich dazu führen, dass die Religion mit all ihren aus der Zeit gefallenen Relikten vom Erdboden verschwindet. Not lehrt beten: Wenn es keine soziale Not und existenzielle Verunsicherung mehr gibt, braucht es auch keine Religion mehr.

Karl Marx sah in der Religion gar das elementare Hindernis der Verwirklichung des »wahren menschlichen Wesens«; die Menschen, schrieb er in seiner Religionskritik, suchten in der Religion Trost und Rechtfertigung, anstatt ihre soziale Realität zu verändern. »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.« Marx’ Religionskritik gipfelt in den berühmt gewordenen Worten: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« Und weiter: »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.« Im Lichte der historischen Erfahrungen der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts freilich erscheint uns heute nicht mehr die Religion als illusorisches Glück des Menschen, wohl aber das Glücksversprechen des menschlichen Paradieses auf Erden, befreit von allen sozialen Nöten und den Ketten der Religion.

»Sapere aude!«

»Sapere aude!« – »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«: Die europäische Bewegung der Aufklärer trat an mit dem Anspruch, den Menschen aus Unwissenheit, Furcht und Abhängigkeit zu befreien. Sie rüttelte an den Dogmen der christlichen Weltdeutung, die mit der kopernikanischen Wende – der Erkenntnis, dass nicht die Sonne sich um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne – grundsätzlich in Zweifel standen. Vor allem ging es den Aufklärern um den Kampf gegen religiöse Intoleranz. Andersgläubige sollten vor Verfolgung durch Kirche und Staat geschützt sein, sie haben Anspruch darauf, geduldet zu werden.

Baruch de Spinoza, selbst jüdischer Herkunft, formulierte in seinem Tractatus theologicopoliticus (1670) eine Kritik an den drei großen Offenbarungsreligionen Christentum, Judentum und Islam. Den Status der absoluten Wahrheit könne keine von ihnen für sich beanspruchen, so Spinoza. Die Bibel und andere heilige Schriften seien nicht von Gott offenbart, sondern von Vertretern der jeweiligen Religionen über einen langen Zeitraum hinweg zusammengestellt worden. Der wahre Kern des Glaubens liege in den Tugenden von Liebe und Gerechtigkeit. Spinoza plädierte für Glaubens- und Meinungsfreiheit und eine Trennung von Religion und Staat.

Für eine klare Trennung von Staat und Kirche trat auch der englische Philosoph John Locke in seinem Brief über die Toleranz (1689) ein: Die Aufgabe des Staates sei es, sich um die bürgerlichen Belange zu kümmern, in Glaubensfragen dagegen dürften die Kirchen als »freiwillige Gesellschaften« keinerlei Zwang ausüben. Hier könne nur das eigene Gewissen entscheiden.

Kritik an jeder Form von Zwang in religiösen Angelegenheiten stand auch im Zentrum von Pierre Bayles Schrift Über die Toleranz (1686), weil Zwang der menschlichen Vernunft widerspreche. Die Religion habe sich, wie alles andere auch, vor dem »Parlement suprême de la Raison«, dem »Gerichtshof der Vernunft« zu verantworten. Bayle trat für eine wechselseitige Toleranz ein, die es erlaubt, bei religiösen Meinungsverschiedenheiten zwar zu versuchen, den anderen von dem für wahr erachteten Glauben zu überzeugen, nicht aber, ihn zu nötigen, einen anderen Glauben anzunehmen.

»Wie lang und breit musste die Arche Noah sein, damit ein Paar sämtlicher Tierarten auf ihr Platz finden konnte?«

Einen Generalangriff auf die Institutionen und Autoritäten des absoluten Staates in Frankreich, auf Königtum und Kirche, stellte die große französische Encyclopédie von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert dar (1751–1772). Die französischen Enzyklopädisten übten Religionskritik mit spitzer Feder, ätzendem Spott und Ironie. Genüsslich breiteten sie die Widersprüche aus, die zutage traten, wenn man die Bibel tatsächlich beim Wort nahm: Wie war es möglich, die Welt in sieben Tagen zu erschaffen? Wie hat man es sich vorzustellen, dass Eva aus der Rippe Adams entstand? Wie erreichte Adam sein biblisches Alter von 930 Jahren? Wie lang und breit musste die Arche Noah sein, damit ein Paar sämtlicher Tierarten auf ihr Platz finden konnte? Mit den Kriterien der sich ausdifferenzierenden modernen Wissenschaft jedenfalls ließen sich die biblischen Erzählungen schwerlich in Einklang bringen.

Dabei waren die Intentionen der Aufklärer durchaus unterschiedlich. Während die einen – darunter die Mehrzahl der französischen Enzyklopädisten – zum Atheismus tendierten, propagierten andere – darunter Voltaire und die Mehrzahl der englischen und deutschen Aufklärer – verschiedene Formen des Deismus, einen an die Vernunft gebundenen Glauben in Abgrenzung zu den drei abrahamitischen Offenbarungsreligionen. Eine Toleranz gegenüber Atheisten hielt auch John Locke für ausgeschlossen (ja, er wollte sie nicht einmal den Katholiken zugestehen). Wo die Existenz Gottes geleugnet werde, so Locke, stehe die Autorität des Staates infrage: Dies könne nur zur Auflösung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft führen.

In Königsberg entwarf Immanuel Kant die Architektur einer »Vernunftreligion«. Die Idee Gottes und die der Unsterblichkeit der Seele sah er als unbeweisbare, aber notwendige Postulate der menschlichen Vernunft an ebenso wie die Idee der Freiheit. Die biblische Lehre von der Erbsünde stehe dafür, dass im Menschen eine Anlage zum Guten ebenso wie ein Hang zum Bösen vorhanden sei; Jesus Christus schien Kant als Sinnbild eines moralisch vollkommenen Menschen. Und die Kirche repräsentiere die Idee eines »ethischen Gemeinwesens«. Die göttlichen Gebote erscheinen in diesem Lichte als Erkenntnis und Ausdruck der menschlichen Pflichten. »Die wahre, alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche praktische Prinzipien, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen.« Im Kosmos der Kant’schen Philosophie wird die Religion eingedampft zu einem Anhängsel der Moral. Gottesdienste, kultischer Handlungen und Zeremonien bedarf es allenfalls noch als Vehikel zur Annäherung an das Vernunftideal. »Alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.«

Aber wie lebensfähig, so lässt sich fragen, ist eine nur auf Vernunft begründete Religion? Braucht nicht jede gelebte Religion ihre Riten und Zeremonien, eine lebendige Kirche als sichtbares und gemeinschaftsstiftendes Zeichen nach innen und außen? »Vor diesem Gott [der Philosophie] kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern«, so Martin Heidegger. »Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.«

Wohin ist Gott?

Gewiss haben die Aufklärer dem Christentum Zivilität abgerungen. Ihnen verdanken wir die Erkenntnis, dass die heiligen Schriften nicht buchstabengetreu zu verstehen sind, dass sie in den Kontext ihrer Entstehung eingebunden sind. Was in ihnen steht, sind keine göttlichen Dogmen, denen ein jeder – ob nun gläubig oder nicht – bedingungslos zu folgen hat. In Sachen Religion kann es keinen Absolutheitsanspruch geben; auch die Religion muss sich an den Maßstäben der Vernunft messen lassen. Religions- und Meinungsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, all das sind Verdienste der Aufklärung.

Dabei haben die verschiedenen Länder im Lichte der Aufklärung ganz unterschiedliche Modelle der Beziehungen von Staat und Kirche entwickelt, vom Staatskirchenmodell über den französischen Laizismus bis hin zum deutschen Kooperationsmodell. Die orthodoxen Kirchen wiederum propagieren eine »Symphonia«, ein harmonisches Zusammenspiel zwischen Staat und Kirche. In Äthiopien, das bereits im 4. Jahrhundert christianisiert wurde, hat sich die äthiopisch-orthodoxe Kirche herausgebildet, der gegenwärtig 40 Millionen Menschen angehören. In dem Land, in dem alle drei abrahamitischen Religionen beheimatet sind, hat schon Kaiser Haile Selassie im Jahre 1930 gesagt: »Die Religion ist Privatgut, das Vaterland ist Gemeingut.«

Die Aufklärung ist aber bei der Einhegung der Religion durch die Vernunft nicht stehengeblieben. Sie hat weiter ihre Messer gewetzt und die Existenz Gottes selbst infrage gestellt. »Wohin ist Gott?«, ruft der »tolle Mensch« Nietzsches seinen Mitmenschen zu. »Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! […] Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet.« Auf den »Teppichen der Erkenntnis« wandelnd, nahm der Philosoph am zeitgenössischen Christentum nur noch »vermummte Trübsal« und den »üblichen Geruch von Totenkammern« wahr: »Bessere Lieder müssten sie mir singen, daß ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müßten mir seine Jünger aussehen!« Einen besonders erlösten Eindruck scheinen mir die Jünger des Atheismus aber auch nicht zu machen. Ich selbst als gläubiger Christ antworte auf die Frage von Journalisten nach meiner Konfession gerne, in Abgrenzung zu den Unkenrufen des Philosophen mit dem Hammer, mit den Worten: »Ich bin ein Erlöster und selig.«

Und dennoch: In West- und Mitteleuropa scheint – während die Religionen weltweit im Wachstum begriffen sind – der christliche Glaube an Gott von anhaltender Schwindsucht befallen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten noch nahezu alle Deutschen einer christlichen Kirche an. Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aber nimmt die De-Institutionalisierung, die Abwendung von der Amtskirche immer weiter zu – unter Katholiken ebenso wie unter Protestanten. In der DDR sorgte das weltanschauliche Regime der SED dafür, dass die Kirche unterdrückt wurde, sich zu ihr bekennende Christen wurden systematisch benachteiligt. Die Hoffnung, dass die Menschen in Ostdeutschland nach dem Fall der Mauer in den Schoß der Kirche zurückfinden würden, erfüllte sich nicht. In Ostdeutschland glauben wohl weniger Menschen an Gott als irgendwo sonst auf der Welt, abgesehen vielleicht von Nordkorea. 73 Prozent von ihnen gehören keiner der beiden großen christlichen Konfessionen an. Dafür erfreut sich die sogenannte Jugendweihe, einst Initiation in die sozialistische Gesellschaft, nach wie vor großer Beliebtheit.

Ende 2017 gehörten insgesamt noch knapp 60 Prozent der Deutschen einer christlichen Kirche an. Zur evangelischen Kirche in Deutschland zählten 21,5 Millionen Menschen, die römisch-katholische Kirche verzeichnete 23,3 Millionen Mitglieder. Dazu kommen knapp zwei Millionen Anhänger orthodoxer Kirchen und evangelischer Freikirchen. Zwischen 1990 und 2017 verließen Jahr für Jahr zwischen 250.000 und 450.000 Menschen die beiden christlichen Kirchen; allein 2017 traten rund 200.000 Menschen aus der katholischen Kirche und 167.500 Menschen aus der evangelischen Kirche aus. Während es früher konkrete inhaltliche Gründe waren, welche die Menschen dazu brachten, aus der Kirche auszutreten – etwa die Sexuallehre der katholischen Kirche –, sind es heute überwiegend nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnungen, die den Ausschlag geben. Die in einer Umfrage der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 2014 am häufigsten genannten Gründe lauten: man stehe der Kirche gleichgültig gegenüber und brauche keine Religion fürs Leben. Die Kirche hat man ohnehin schon lange nicht mehr von innen gesehen, mit dem Austritt lässt sich endlich auch die lästige Kirchensteuer einsparen.

»In Sachen Religion kann es keinen Absolutheitsanspruch geben; auch die Religion muss sich an den Maßstäben der Vernunft messen lassen.«

In der erwähnten Umfrage der EKD erklären die meisten Menschen auch, dass sie über Religion nicht so gern in der Öffentlichkeit reden. Nur mit ihrem (Ehe-)Partner oder mit guten Freunden würden sie sich über religiöse Themen unterhalten. Religion, so die weitverbreitete Ansicht, ist Privatsache. Die Folgen dieser Erosion des christlichen Glaubens sind überall sichtbar: Seit dem Jahr 2000 wurden in Deutschland über 500 katholische Kirchengebäude als Orte des Gottesdienstes aufgegeben. Sie dienen nun als Wohnungen, Seniorenheime, Kindergärten, Kultur- und Musikzentren, Restaurants und anderes mehr. In Bielefeld wurde 2008 sogar eine evangelische Kirche in eine Synagoge umgewandelt. 140 Kirchen wurden abgerissen, viele weitere stehen auf der »Roten Liste«.

Dafür tritt nun der Atheismus mit zunehmendem Bekehrungseifer auf. Der Neurobiologe Richard Dawkins, Verfasser des Bestsellers Der Gotteswahn, hält die Religion für ein Nebenprodukt der Evolution »ohne darwinistischen Überlebenswert« und ruft die Atheisten aller Länder auf, sich zu einer Massenbewegung zu vereinigen. Die Londoner »Atheistische Buskampagne« ließ im Jahr 2008 Busse durch die englische Hauptstadt rollen mit der Aufschrift: »There’s probably no God. Now stop worrying and enjoy your life.« (»Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Hör also auf, dir Sorgen zu machen, und genieße dein Leben.«) Die Kampagne fand zahlreiche Ableger und Nachahmer in anderen europäischen Städten. In Deutschland wurde 2004 die Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufen, welche die Ansicht vertritt, dass Religionen »die kulturelle Evolution der Menschheit auf unheilvolle Weise beeinflusst«. Sie wirbt mit Plakaten für den Austritt aus der Kirche und stiftet einen regelmäßigen Kunstpreis für Blasphemie.

Weiche Spiritualitäten

Dabei sind durchaus Zweifel erlaubt, dass all jene, die sich von den christlichen Konfessionen abwenden, irreligiös sind. Das Bedürfnis nach Spiritualität jedenfalls scheint nach wie vor sehr groß zu sein. Immer mehr basteln sich ihren »eigenen Gott«, dem sie sich verpflichtet fühlen, zusammengesetzt aus dem spirituellen Baukasten der verschiedenen religiösen Traditionen. Als das Maskottchen dieser religiösen Wellness-Bewegung darf die allgegenwärtige Buddha-Figur gelten – der ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein hat sie als den neuen Gartenzwerg des Landes identifiziert. Der immer Lächelnde ist in Baumärkten und Gartencentern im Angebot, er schmückt Friseursalons und Hotellobbys. Das mag alles weniger mit Überzeugungen als mit Wohlfühl-Design zu tun haben, ist aber bei näherem Hinsehen nicht frei von Dogmatik. Der Konsument weicher Spiritualitäten kennt nämlich durchaus ein Dogma, und das lautet: »Das muss jeder für sich selbst entscheiden.« Auf den religiösen Trend in Richtung Individualisierung und Pluralisierung haben sich inzwischen auch die Amtskirchen eingestellt. Wer »sich selbst entscheiden« will, braucht einen bunten Warenkorb im Angebot auf dem religiösen »Markt der Möglichkeiten«. Kirchentage pflegen heutzutage im Wettlauf um die Bequemlichkeit ganz bewusst dieses Design.

»Immer mehr basteln sich ihren ›eigenen Gott‹, dem sie sich verpflichtet fühlen, zusammengesetzt aus dem spirituellen Baukasten der verschiedenen religiösen Traditionen.«

Während die christliche Religion in Europa immer mehr aus dem öffentlichen Raum verschwindet, ist in den letzten Jahren eine andere der drei abrahamitischen Religion immer mehr ins öffentliche Leben gerückt: der Islam. In einer Sphäre, in der Religion zur Privatsache geworden ist, stößt ein sichtbar gelebter gemeinschaftlicher Glauben, wie er in der Umma der Muslime zum Ausdruck kommt, auf starke emotionale Reaktionen: Manch ein Sinnsuchender aus dem Abendland fühlt sich vom Gemeinschaftsgefühl unter den Muslimen, der identifikationsstiftenden Kleidung und der Ausrichtung sämtlicher Lebensbereiche nach den Regeln des Koran angezogen. Für einige von ihnen wirkt womöglich auch faszinierend, dass der Glaube der Muslime nicht wie der christliche von fortwährenden Zweifeln angekränkelt scheint – sie spüren darin das Vakuum des eigenen religiösen Gefühls. Andere – darunter auch solche, die sich zu Bewahrern des »christlichen Abendlandes« erklären – fühlen sich von der demonstrativen Sichtbarkeit des ihnen fremden Glaubens provoziert – und fürchten sich vor Überfremdung und davor, selbst an den Rand gedrängt zu werden. Mit dem Sichtbarwerden des Islam in der Gesellschaft bekommt die Frage der religiösen Toleranz neue Aktualität.