Was ist Nationalismus?

Was ist Nationalismus?

Auszug aus Tobias Werron »Der globale Nationalismus«, Seite 5–12

Der Nationalismus hat eine Eigenschaft, die ihn politisch wie wissenschaftlich interessant macht: Er will einfach nicht verschwinden. Diese Eigenschaft fällt heute besonders auf, da das Ende des Nationalismus bereits mehrfach angekündigt und dann wieder abgesagt worden ist. Noch vor wenigen Jahren, in der Globalisierungsdebatte der 1990er und 2000er Jahre, meinten viele, dass in unserem »globalen Zeitalter« für Nationalstaat und Nationalismus kein Platz mehr sei. Der Nationalstaat sei zu groß für die kleinen und zu klein für die großen Probleme, hieß es, der Nationalismus zu eng für eine Welt, die immer mehr zusammenwächst, und so sei es nur eine Frage der Zeit, bis beide von anderen, geeigneteren Formen der Identitätsbildung und Staatsorganisation abge­löst würden.

»Nationalismus ist nicht nur eine auffällige Ideologie, sondern auch eine unauffällig und leise operierende Institution.«

Diese Diskussion kann einem schon wieder veraltet vor­kommen. Statt vom Ende ist seit einiger Zeit von einem »neuen Nationalismus« die Rede. Der britische Brexit, die aggressive Rhetorik autoritärer Regimes in Russland, China oder der Türkei, der Unabhängigkeitskampf nationaler Bewegungen in Katalonien oder Schottland, Wahlerfolge nationalistischer Parteien wie der AfD und des Front National in Europa und ein – durch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016 verstärkter – Trend zu protektionistischer Handelspolitik: All dies scheint nahezulegen, dass der Nationalismus in den letzten Jahren weltweit wieder an Präsenz und Einfluss hinzu­gewonnen hat. Dabei mischt sich die Debatte über den Natio­nalismus mit Diskussionen über andere drängende Themen wie Populismus und Autoritarismus, die irgendwie mit dem neuen Nationalismus zusammenzuhängen scheinen, auch wenn dieses »irgendwie« selten genauer erläutert wird.

Umso dringlicher erscheint die Frage, welche Rolle der Nationalismus in diesem Problemgeflecht spielt: Was genau ist eigentlich Nationalismus? Weshalb hat er sich als beharr­licher erwiesen, als ihm vorhergesagt worden war? Was ist von ihm noch zu erwarten, wie könnten wir uns zu ihm ver­halten? Ich beantworte diese Fragen hier aus einer soziologischen Perspektive, die Einsichten aus der neueren Nationa­lismus- und Globalisierungsforschung miteinander verbindet. Meine Hauptthese wird sein: Wir können den Nationalismus nicht verstehen, ohne unseren gewohnten Blick auf ihn in zwei grundsätzlichen Hinsichten zu überdenken und neu einzustellen.

Erstens: Wir neigen dazu, den Nationalismus als politi­sche Ideologie aufzufassen und mit seinen auffälligsten Erscheinungsformen gleichzusetzen. Nationalisten, das sind Leute, die Fahnen schwenken, Kriege führen, aus der Geschichte nichts gelernt haben und mit den Komplexitäten des modernen Lebens nicht zurechtkommen, und Nationalismus ist die simpel gestrickte Ideologie, die zur Mentalität solcher Leute passt.

Zweitens: Wir neigen dazu, uns Nationalismus und Glo­balisierung als Gegensätze vorzustellen und daher zu unter­stellen, dass mehr Globalisierung weniger Nationalismus und mehr Nationalismus weniger Globalisierung bedeutet. Beide Prämissen haben sich im öffentlichen Diskurs einge­nistet, und beide lenken und beschränken unser Denken über Nationalismus.

Um den neuen Nationalismus zu verstehen, sollten wir beide Annahmen aufgeben und teilweise umkehren. Das im­pliziert erstens: Nationalismus ist nicht nur eine auffällige Ideologie, sondern auch eine unauffällig und leise operierende Institution. Institution, das heißt soziologisch: eine selbst­verständlich gewordene Erwartung, von der unterstellt wird, dass sie von anderen geteilt wird. Da Selbstverständlichkeit das Hauptmerkmal von Institutionen ist, kann man sie leicht übersehen oder unterschätzen. Der moderne Nationalismus ist eine Institution in diesem Sinne. Er ist zu einer Institution geworden, indem er sich im Alltag festgesetzt und in einer etwa 200-jährigen Geschichte allmählich zu einer Hintergrundselbstverständlichkeit entwickelt hat, ohne die wir uns kaum noch in der Welt orientieren können. Die Beharrungs­kraft des Nationalismus hat daher auch mit einer spezifischen Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit zu tun, die er sich im Laufe dieser Geschichte erworben hat: mit seiner Fähigkeit, seinen Aggregatzustand immer wieder zu wechseln und einerseits gelegentlich auffällig, ideologisch und konfliktbereit in Erscheinung zu treten, andererseits aber auch immer wie­der in den Hintergrund zurückzutreten und sich außerhalb des öffentlichen Blickfelds unauffällig fort- und festzusetzen. Diese beiden Aggregatzustände sind in der neueren Nationalismusforschung auch als »heißer Nationalismus« und »banaler Nationalismus« beschrieben und unterschieden wor­den, wobei »banal« im Kern heißt: Der Nationalismus ist auch präsent, wenn er gerade nicht auffällt. Diese unauffällig-bana­le Dimension gilt es genauer zu verstehen, wenn wir uns nicht immer wieder aufs Neue von ihm überraschen lassen wollen.

»Nationalismus und Nationalstaat sind ebenfalls Produkte der Globalisierung, ja vielleicht ihre erfolgreichsten und folgen­reichsten Produkte überhaupt.«

Zweitens: Der häufig unterstellte Gegensatz zwischen Nationalismus und Globalisierung ist ein Artefakt zu enger, ökonomischer Begriffe von Globalisierung. Im öffentlichen Diskurs und in weiten Teilen der wissenschaftlichen Literatur wird Globalisierung mit wirtschaftlichen Prozessen gleichge­setzt, insbesondere mit der Transnationalisierung von Pro­dukt- und Finanzmärkten, mit der Zunahme internationalen Handels und mit grenzüberschreitenden Aktivitäten transna­tionaler Unternehmen. Das erklärt, warum nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er und 2000er Jahren so viel vom »Ende des Nationalismus« sowie vom »Ende des Natio­nalstaats« die Rede war: Die vom Systemkonflikt befreite glo­bale Wirtschaft, so dachte man, könne nun sämtliche territoriale Grenzen sprengen und eine »flache Welt« sowie ein wahrhaft »kosmopolitisches Zeitalter« hervorbringen.

Es erklärt zugleich, weshalb sich diese Diagnosen als voreilig erwiesen haben. Denn dieses ökonomisch verkürzte Globalisierungsverständnis übersieht einen wichtigen Punkt: Nationalismus und Nationalstaat sind ebenfalls Produkte der Globalisierung, ja vielleicht ihre erfolgreichsten und folgen­reichsten Produkte überhaupt. Um dies sehen und untersu­chen zu können, muss der Begriff der Globalisierung jedoch auf außerökonomische Prozesse und zugleich historisch erweitert werden. Dies vorausgesetzt, lässt sich auch die Ge­schichte des Nationalismus selbst als eine Globalisierungsgeschichte erzählen, nämlich als Geschichte eines modernen politischen Diskurses, der sich im späten 18., frühen 19. Jahrhundert formierte, im 19. und 20. Jahrhundert weltweit verbreitete, im internationalen Recht kodifiziert wurde und entscheidend zur Institutionalisierung des heutigen Staatensystems beigetragen hat. So betrachtet, bilden Nationalismus und Globalisierung keinen Gegensatz, sondern eine über Jahrhunderte gewachsene Steigerungsbeziehung.

Führt man diese Überlegungen – jene zum »banalen« Nationalismus und jene zur Globalisierung des Nationalis­mus – zusammen, erscheint der moderne Nationalismus als eine globale Institution, die ihre Beharrungskraft auch der Fähigkeit verdankt, beständig zwischen auffälligen und un­auffälligen Aggregatzuständen wechseln zu können. Banaler Nationalismus, globaler Nationalismus: Der Essay wird die­se unzureichend beachteten Dimensionen des modernen Na­tionalismus näher beschreiben und zueinander in Beziehung setzen und vor diesem Hintergrund am Schluss ein paar Überlegungen zur Frage anstellen, was den »neuen Nationa­lismus« im historischen Vergleich auszeichnet und wie wir uns selbst zu ihm verhalten könnten.

Wovon sprechen wir, wenn wir von Nationalismus sprechen? Mit welchem Begriff lässt sich der Nationalismus als globale Institution in den Blick nehmen und historisch einordnen? Bei der Annäherung an diese Fragen hilft zunächst die Ein­sicht, dass der Nationalismus gegenwärtig nicht zum ersten Mal wiederentdeckt wird. Insbesondere in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren war schon einmal auffallend viel von einer »Wiederkehr« des Nationalismus die Rede, in Formulierungen, die bisweilen denen der heutigen Diskus­sion bis aufs Wort gleichen. Ein wichtiger Anlass für die damalige Debatte waren nationalistisch motivierte Kriege in Ostasien, ein weiterer ein Trend zu protektionistischer Wirtschaftspolitik (nicht zuletzt auch der damaligen US-Regie­rung), der schon damals viele von einem »neuen ökonomischen  

Nationalismus« sprechen ließ. Und auch schon damals wurden nationalistische Rhetorik und Handelspolitik als Reaktion auf Globalisierungsprozesse der Nachkriegszeit beschrieben, nur dass das Wort Globalisierung noch nicht in Mode und stattdessen eher von »Internationalisierung« oder »globaler Integration« die Rede war.

»Die Erkenntnis, dass der Nationalismus persistenter ist, als man gedacht oder sich gewünscht hatte, ist also selbst schon über 30 Jahre alt.«

Die frühen 1980er Jahre waren daher nicht zufällig auch die Zeit, als sich Sozial- und Kulturwissenschaftler unterschiedlicher Forschungsrichtungen intensiver mit dem Nationalismus zu beschäftigen begannen. Viele der seitdem erschienenen sozialwissenschaftlichen und historischen Stu­dien gingen von der Beobachtung aus, dass sich der Nationa­lismus als stabiler und robuster erwiesen hatte, als ihm von tonangebenden Theorien – insbesondere aus der marxisti­schen Tradition – zugetraut worden war. Ganz in diesem Sinne kommentierte Benedict Anderson, selbst ein vom Na­tionalismus überraschter Marxist, in seinem 1983 erschiene­nen Buch Imagined Communities die Lage mit einem Satz, der genauso auch die heutige Lage beschreiben könnte: »Das schon so lange verkündete ›Ende des Zeitalters des Nationa­lismus‹ ist nicht im Entferntesten in Sicht.«

Die Erkenntnis, dass der Nationalismus persistenter ist, als man gedacht oder sich gewünscht hatte, ist also selbst schon über 30 Jahre alt. Anders als die ökonomisch domi­nierte Globalisierungsdebatte der 1990er und 2000er Jahre hat die sozial- und kulturwissenschaftliche Nationalismus­forschung der letzten Jahrzehnte diese Erkenntnis in der Zwischenzeit nicht vergessen und sich zu einem fruchtbaren Forschungszweig entwickelt, der sich in den letzten Jahren auch mit der neueren Globalisierungsliteratur verbunden hat. Dabei sind auch einige bleibende Einsichten zum Begriff des Nationalismus entstanden, die ich hier zu einer Arbeitsdefinition zusammenführen will: