Im Gespräch zur Corona-Krise #2

»Wir müssen den Impuls zum Wunschdenken unterdrücken«

Philipp Hübl im Gespräch zu Wahrheit vs. Fake in Zeiten von Corona

 

Lieber Herr Hübl, wie geht es Ihnen? Wie sieht Ihr Alltag gegenwärtig aus?

Mein Alltag hat sich zum Glück wenig verändert. Als Philosoph habe ich ja die meiste Zeit meines Lebens Selbst-Isolation praktiziert, das Homeoffice ist mein natürliches Arbeitsumfeld. Aber Freunde treffen, gemeinsame Abendessen, Sport, Reisen vermisse ich mit jedem Tag mehr.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch Bullshit-Resistenz mit Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien. Über die Verbreitungswege des Corona-Virus, die Gefährlichkeit der von ihm ausgelösten Krankheit und zweckmäßige Schutzmaßnahmen wird derzeit leidenschaftlich und kontrovers diskutiert. Wie gelingt es uns inmitten der Corona-Krise zu unterscheiden, was Wahrheit ist und was Fake News und Bullshit?

Die Pandemie ist ein nicht versiegender Quell für Verschwörungstheorien und Fake News, die besonders am rechten Rand erblühen. Wie bei allen wichtigen Themen lautet die Antwort auch hier: Man sollte auf die Expertinnen und Experten hören, denn sie kennen sich am besten aus. Sicher wissen auch Forscher nicht alles und irren sich auch – wir Menschen sind nun einmal fehlbare Wesen. Aber niemand sonst weiß es besser. Natürlich muss jeder Einzelne kritisch bleiben, selbst wenn wir etablierte Medien konsumieren. Kritisches Denken, oder »Bullshit-Resistenz«, wie ich es nenne, heißt aber auch zu wissen, dass die berechtigte Skepsis gegenüber der etablierten Meinung, dem »Mainstream«, schnell in Verschwörungsdenken umschlagen kann.

Virologen bevölkern inzwischen die Talkshows, Regierungspolitiker umgeben sich auf Pressekonferenzen gerne mit Experten aus der Wissenschaft. »Ist das unser Kanzler?«, titelte die DIE ZEIT mit einem Bild von Christian Drosten, dem führenden Virologen der Berliner Charité. Was heißt das für die Demokratie, wenn die Wissenschaft der Öffentlichkeit und der Politik den Takt vorgibt?

Zunächst einmal ist es ein Zeichen von Fortschritt, dass die Regierung ihre Entscheidungen auf virologische Untersuchungen stützt – im Gegensatz zu Wissenschaftsfeinden wie Bolsonaro und Trump. Und auch die meisten Menschen in Deutschland sind aufgeklärt und vernünftig. Das zeigt, dass wir nicht in einem postfaktischen Zeitalter leben, wie es einige Kulturtheoretiker behaupten. Spätestens wenn es um Leben und Tod geht, ist den Menschen die Wahrheit nämlich nicht egal. Gleichzeitig ist klar, dass die Wissenschaft uns immer nur sagen kann, wie die Welt beschaffen ist, eben was die Fakten sind. Was wir tun sollen, also die normative Frage der Moral und der Politik, kann sie nicht beantworten. Da ist nicht nur die Regierung, sondern da sind alle Bürgerinnen und Bürger gefragt, solche Entscheidungen öffentlich auszuhandeln.

Die BILD-Zeitung hat Anfang April ihre Leser befragt, welchem Virologen sie am meisten vertrauen. An der Spitze lag, wie erwartet, Christian Drosten, gefolgt von Hendrik Streeck, der mit seiner Studie an Infizierten in Heinsberg für Schlagzeilen sorgt – und eher für einen schnelleren Rückgang zur Normalität plädiert. Suchen wir uns unsere Lieblings-Experten womöglich auch danach aus, wie nahe sie unseren eigenen Ansichten stehen – je nachdem ob wir für striktere Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sind oder eher für weitgehende Lockerungen der verhängten Beschränkungen?

Ganz sicher. In der Forschung heißt das »motivated cognition«, interessengeleitete Kognition, wenn der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Alle Menschen neigen dazu, wie zahlreiche Studien zeigen: Wenn Fakten unserer Ideologie, Gruppenzugehörigkeit oder bloß unseren Präferenzen widersprechen, deuten wir sie gerne um. In harmlosen Fällen wollen wir dann nicht wahrhaben, dass der Stürmer unseres Lieblingsvereins die Rote Karte wirklich verdient hat. Aber in Extremfällen führt dieses Denken dazu, dass etwa Konservativ-Rechte von Trump bis hin zum Personal der AfD und anderer Rechtsparteien in Europa den menschengemachten Klimawandel leugnen, weil sie das Thema als Signatur der linksliberalen Gegenseite betrachten. Bei der aktuellen Pandemie müssen wir diesen Impuls zum Wunschdenken also möglichst unterdrücken. Auch mir wäre lieber, Streeck würde am Ende Recht behalten, doch ich befürchte, Drostens vorsichtige Einschätzung ist besser begründet.

Vor einigen Monaten noch hatte man den Eindruck, dass unsere Gesellschaft tief gespalten sei und es immer schwerer werde, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Nun, in der Krise, ist die Zustimmung zur Regierung sprunghaft angestiegen, rund 90 Prozent der Deutschen heißen die verhängten Maßnahmen gut, der Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien und Strömungen scheint gestoppt. Was meinen Sie, ist das eine langfristige Veränderung oder werden die alten Konflikte bald wieder aufbrechen?

In der Krise hat die Regierung einen strategischen Vorteil, weil sie gerade die Entscheidungen trifft. Die CDU/CSU kann mit ihrem etwas autoritäreren Kurs im Moment sicherlich Wähler am rechten Rand binden. Und der bisherige Zulauf zur AfD hatte auch damit zu tun, dass sie ständig auf allen Kanälen präsent war. Jetzt ist sie medial abgemeldet. Doch das ist nur ein temporärer Effekt. Die Fremdenfeindlichkeit und der kulturelle Backlash verschwinden nicht einfach durch die Krise. Im Gegenteil, sobald die weltweite Rezession einsetzt mit Arbeitslosigkeit, Armut und Frustration, könnten die Rechtsparteien europaweit mehr Zulauf bekommen. Die Pandemie ist ja eine negative Folge der Globalisierung. Und ein zentrales Merkmal der Rechten ist: Sie sehen die Globalisierung als eine Bedrohung an und wollen den internationalen Austausch an Ideen, Gütern und Menschen möglichst beschränken.

Wir lesen in vielen Artikeln und Kommentaren davon, dass wir die weltweite Krise auch als Chance begreifen sollten. Was könnte sich dadurch zum Positiven verändern?

Ich halte diese Neigung, Krisen als Chancen umzudeuten, für fatal. Erst einmal sterben viele Menschen. Aber natürlich hoffen alle, dass nach der Pandemie einiges anders wird. Die Solidarität könnte in Deutschland, vielleicht sogar weltweit zunehmen und die Idee des Gemeinwohls wieder ins Zentrum der Debatte rücken. Eine Aufwertung der systemrelevanten Berufe kann man jetzt schon beobachten. Die Krise zeigt ja, dass wir als Gesellschaft lange Zeit unbemerkt falsche Prioritäten gesetzt haben. Wir haben die Menschen in der Kreativ-, Tech- und Medien-Szene mit Geld und vor allem mit sozialer Anerkennung belohnt, der kostbarsten Währung unserer Zeit. Viel zu wenig dagegen haben wir Berufen der kritischen Infrastruktur unsere Wertschätzung entgegengebracht: der Medizin, der Arbeit in der Pflege und der Familie und den Berufen der Grundversorgung. Das ändert sich jetzt. Es wäre gut, wenn wir das nach der Krise beibehalten und sogar ausbauen.

Im Augenblick haben viele von uns mehr Zeit zum Lesen. Eine Empfehlung von Ihnen für ein Buch, dessen Lektüre uns in diesen Tagen klüger machen kann?

Drei ganz aktuelle Empfehlungen: Wer sich fragt »Was hat sich der Weltgeist mit Corona gedacht?« und »Wer ist der Weltgeist überhaupt?«, dem empfehle ich das Buch Hegel. Der Weltphilosoph von Sebastian Ostritsch (Propyläen). Wer sich für die digitale Disruption interessiert, die durch die Pandemie gerade extrem beschleunigt wird, der sollte Die große Zerstörung von Andreas Barthelmess (Dudenverlag) und Die Gesellschaft der Wearables von Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski (Nicolai) lesen.

Das Gespräch führte Rainer Wieland am 28. April 2020.

 

Philipp Hübl ist Philosoph und Autor. Bis 2018 war er Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart. Zuvor hat er an der RWTH Aachen und der Humboldt-Universität Berlin gelehrt, danach an der Universität der Künste Berlin. Er forscht zu Philosophie des Geistes, Sprachphilosophie, Metaphysik und Wissenschaftstheorie. Als Buchautor veröffentlichte er u. a. Folge dem weißen Kaninchen ... in die Welt der Philosophie (2012) und Die aufgeregte Gesellschaft (2019). Bei Nicolai erschien sein Buch Bullshit-Resistenz.

 

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